Die Perspektive des Kindes

illu1Illustration: Jochen Gasser, Brixen

 

Warum betroffene Kinder nicht über ihre Gewalterfahrungen sprechen und nicht um Hilfe bitten

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„…in den folgenden Jahren lerne ich sehr viel. Nicht nur Lesen, Schreiben, Italienisch und Mathematik, ich lerne auch, dass ich über bestimmte Dinge nicht sprechen darf. Vor allem nicht über Vorkommnisse innerhalb der Familie. Papa erklärt mir, dass wir zusammenhalten müssen, weil wir ein Team sind. Er erklärt mir weiter, dass man nach außen hin immer nur positiv von der Familie spricht, weil man sich doch ansonsten selber schlecht redet. Er sagt, dass die Menschen doch gleich verstehen würden, dass ich so bin, wenn ich Negatives erzählen würde. Er erklärt mir das mit einem Lächeln, als ob er mich in ein tolles Geheimnis einweiht und ich freue mich darüber, wie klug mein toller, geliebter Papa doch ist. Und ja, wir sind ein Team. In Liebe verbunden, für immer…“ *

 

Kinder, die Gewalt erfahren, lernen von Anfang an, dass sie nicht darüber sprechen dürfen. Das gehört ganz einfach zur Grunddynamik der Gewalt dazu. Die Argumente, die das Kind hört, sind viele und können stark variieren.

„Dir wird niemand glauben“, „Du bist dann Schuld wenn du in ein Heim kommst und Papa/Mama in einem Gefängnis enden“, „Alle werden denken, dass du selbst aggressiv bist“, „die Leute wissen, dass du die Strafe provoziert hast und selbst Schuld dafür bist“, bis hin zu „wenn du etwas sagst, dann bringe ich dich/eine geliebte Person um“, um nur ein par Beispiele zu nennen. Das Schweigen des Kindes wird oft zusätzlich verstärkt und bestätigt, wenn es erlebt, dass Außenstehende Gewaltsituationen oder deren Folgen mitbekommen, aber nicht darauf reagieren. Dadurch wird im Kind das Bewusstsein für Recht und Unrecht weiter in Frage gestellt und die Position des Gewalttätigen in den Augen des Kindes gestärkt.

Grundstrukturen, die im Kindesalter erlernt werden, begleiten uns Leben lang, sie sind es, die unsere Persönlichkeit „programmieren“. Das ist der Grund dafür, warum Betroffene selbst im Erwachsenenalter noch nicht über Gewalterlebnisse aus der Kindheit sprechen können. Die Erinnerung ist direkt gekoppelt mit Gefühlen der Angst, der Scham und der Ohnmacht, selbst wenn in der Realität längst keine Abhängigkeit mehr besteht.


Warum betroffene Kinder meist nicht als solche auffallen, sondern manchmal sogar besonders stark und sicher wirken

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„…es ist einfacher, richtig wütend zu werden, zu explodieren, Schimpfwörter zu verwenden, etwas zu Boden zu schmeißen und mit den Füßen zu stampfen, als Verletzlichkeit und Trauer zu zeigen. Mit Verletzlichkeit und Trauer kann ich nämlich alleine nicht klarkommen, ich wüsste nicht wohin damit, es schmerzt. Da bräuchte ich jemanden, der mich tröstet. Doch den gibt es nicht…“ *

 

Angst und Traurigkeit zu zeigen muss – so seltsam das auch klingen mag – gelernt sein! Kinder, die in ihrer Familie Gewalt erfahren sind innerlich eingeschüchtert, verängstigt. Zugleich werden sie in ihrer Angst oft nicht aufgefangen und getröstet, wenn die Gewalt von einer engen Bezugsperson ausgeht. Das bedeutet, dass sie sich eine starke Fassade zulegen müssen, als Strategie, um zu überleben – um alleine mit den negativen Emotionen klar zu kommen. Mechanismen und Strategien festigen sich, das Kind kann diese in Folge meist auch nicht – oder nur sehr schwer – ablegen , auch wenn es sich in einem theoretisch sicherem Umfeld befindet. Es kennt es ganz einfach nicht anders!


Warum Kinder, die Gewalt unter Familienmitgliedern erleben, häufig in verschiedensten Bereichen die Verantwortung zu übernehmen suchen

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„…ich kann in den Nächten kaum mehr schlafen, liege immer öfter stundenlang wach und versuche, wieder und wieder nachzurechnen oder alternative Lösungen zu finden. Aber es kommt einfach immer auf dasselbe raus…“ *

 

Wenn ein Kind miterlebt, wie ein Mitglied der Familie Gewalt erleiden muss, dann erlebt es dieses Familienmitglied als schwach, entwertet und oft als hilflos. Wenn es sich hierbei um eine Bezugsperson handelt (Gewalt unter Eltern), dann kann das Kind die Bezugsperson, die in der Opferrolle ist, nicht mehr als stark und schützend wahrnehmen, doch auch der Täter übernimmt diese Rolle nicht. So kommt es häufig, dass das Kind die Verantwortung übernimmt, indem es versucht, die schwächere Person zu schützen, die Situation bereits im voraus zu kontrollieren oder wenn nötig sich auch in brenzligen Situationen dazwischen zu stellen.

Solche Kinder entwickeln ein Gespür für drohende Gefahr, für Stimmungsschwankungen etwa. Durch die Tatsache, dass sie unbewusst die Verantwortung übernehmen, werden sie selbst im Leben stark eingeschränkt und können nicht mehr „Kind sein“. Diese Verantwortung zieht oft auch starke Schuldgefühle nach sich, etwa wenn in Folge etwas geschieht und das Kind nicht schützend eingreifen konnte weil es nicht zur Stelle war. Diese Dynamik wird sehr verstärkt, wenn ein Elternteil unter einer Suchterkrankung leidet. In solchen Fällen kann es sein, dass die Rollenverhältnisse komplett vertauscht werden (das Kind versucht, die Finanzen zu kontrollieren, den betroffenen Elternteil sicher nach Hause zu bringen, Hausarbeiten wie kochen und putzen zu übernehmen, auf kleinere Geschwister aufzupassen usw.)


Warum es für ein Kind keineswegs weniger schmerzhaft ist, Gewalt an anderen mit zu erleben, als Gewalt am eigenen Körper zu erfahren

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„…schon als ich die Tür öffne, höre ich laut Papas Stimme. Böse. Ich erstarre. Ein Poltern ertönt, ein lautes Krachen. Porzellan zersplittert hart auf dem Fliesenboden. Ein nicht einzuordnender dumpfer Schlag. Panisch erklingt Mamas Stimme. „Hör auf! Lass mich!“, schreit sie. Ihre Stimme fährt mir durch Mark und Bein. Sie klingt schrill, bricht fast, so laut ist sie. Wieder ein Schlag, etwas knallt hart gegen die Küchenwand. Ich weiß im selben Moment, dass es Mamas Körper ist. Sie schreit hysterisch, Papas Stimme nun etwas leiser, aber umso bedrohlicher. Abgehackt, ich kann an der Stimme hören, dass er mit Kraft gegen etwas ankämpft. Gegen den sich wehrenden Körper von Mama. Schläge. Haue. Unterdrückung. Beleidigungen. Drohungen…“ *

 

Zusehen müssen, wie eine geliebte Person misshandelt wird, ohne eingreifen oder etwas daran ändern zu können, war einst eine Foltermethode im Krieg. Vielleicht eine der grausamsten – für erwachsene Menschen.

Was eine Situation dieser Art also in einem Kind auslöst, das vielleicht miterleben muss, wie eine ihm nahe stehende Person Gewalt erfährt, muss wohl nicht mehr weiter erläutert werden. Wenn es sich hierbei zudem um eine Bezugsperson handelt (Gewalt unter Eltern) dann muss nicht nur um das Wohl des Gewaltopfers, sondern zugleich um das eigene Wohl gebangt werden. Wenn Mama etwas Schlimmes geschieht, wer kümmert sich dann um mich?

Laut Hirnforschungen wird das eigene Schmerzzentrum aktiviert, wenn wir Schmerz an anderen miterleben. Der psychische Stress; nicht zu wissen, was noch kommt, die Sorge vor Schlimmerem, die Angst, dass etwas geschieht, während das Kind selbst vielleicht in der Schule sitzt, andauernde Sorge und die Tatsache, nie darüber sprechen zu dürfen – diese zusätzliche Last ist enorm.


Warum betroffene Kinder manchmal dazu tendieren, die Gewalt selbst zu verharmlosen, scheinbar zu ignorieren oder auch Gewalt gar nicht als solche zu erkennen und warum betroffene Kinder sich oft sogar selbst die Schuld für negative Verhaltensweisen der Bezugsperson/en zuzuschreiben

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„…er lacht und scherzt. Ich versuche schnell, sein Lächeln zu erwidern, doch es kostet mich viel Mühe und Kraft und ich spüre, dass auch das darauf folgende Lachen meine noch immer ängstlich geweiteten Augen nicht erreicht. Meine Seele kauert nämlich weiterhin ängstlich und zitternd in der Ecke und versteckt ihr Gesicht hinter beiden Händen. Sie traut dem Frieden nicht und fürchtet sich zu Tode. Ich aber versuche, die Situation schon bald zu verdrängen, die Zeit mit meinem Papa zu genießen, der endlich wieder gut gelaunt ist und mich wieder lieb hat…“ *

 

Die engsten Bezugspersonen sind für das Kind überlebensnotwendig. Sie sind im Normalfall diejenigen, die das Kind ernähren, ihm ein Dach über dem Kopf bieten, es versorgen und schützen.

Darum liegt es in der Natur des Kindes, seine Eltern zu lieben und auf seine Eltern zu vertrauen. Es gibt kurz gesagt keine Alternative. Dies ist der Grund dafür, warum ein Kind trotz schlimmen Erfahrungen das Gute in seinen Eltern sieht, sich manchmal tatsächlich nicht mehr an Schlimmes erinnern kann oder aber sich einfach nicht daran erinnern will. Ein Kind ist nicht in der Lage, sich den Wechsel zwischen gut und böse zu erklären. Und diese Schwankungen sind für das Kind gefährlich unvorhersehbar. All dies löst starke Gefühle der Unsicherheit aus. Kinder übernehmen dann – um die Situation für sich selbst erklären zu können – unbewusst die Verantwortung und die Schuld für das Geschehene. So kann das Bild der schützenden und fürsorglichen Bezugsperson bestehen bleiben. In Folge wirken diese Kinder oft übermäßig brav und angepasst – sie versuchen, jedes Verhalten zu vermeiden, das Wut und Zorn auslösen könnte.


* Auszug aus „Meine Seele weint – Gewalt in der Familie – eine Tochter erzählt“, Monika Habicher 2015, Athesia Verlag

 


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