Psychosoziale Folgen aus psychologischer Sicht


Dr. Michela Casagrande *


Wird ein Kind Situationen der Vernachlässigung oder gar der Misshandlung ausgesetzt, dann ist dies ein Auslöser für starken Stress im Körper des Kindes, was direkte Auswirkungen auf die Entwicklung von Körper und Geist haben kann.

Diese Abweichungen in der Entwicklung haben evolutionspsychologisch einen Sinn: sie sind Strategien der Anpassung um zu überleben. Langfristig gesehen jedoch lösen sie ernsthafte Schwierigkeiten im Kind aus.

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Einige Studien haben gezeigt, dass Kinder zwischen 2 und 4 Jahren, die Gewalt erfahren, bereits depressive Züge aufweisen, unter Trennungsangst, Post – traumatische Belastungsstörungen, Auffälligkeiten im Verhalten oder auch unter Phobien leiden. Dies kann sich anfangs in Wut, Schuldgefühlen, Traurigkeit, Scham, riskanten Verhaltensweisen, später in nicht funktionierenden Beziehungen, Isolierung oder Suchtverhalten zeigen.

Viele Studien zeigen, dass solche Faktoren für traumatisierenden Stress sehr die Fähigkeit der Selbstregulierung in Emotion und Verhalten beeinflussen, auch können sie auf die Entwicklung und den Ausdruck von kognitiven Fähigkeiten direkt einwirken. Eine typische Charakteristik von Kindern und Jugendlichen mit der Diagnose von Verhaltensstörungen beispielsweise ist jene, Verhaltensweisen zu wiederholen oder weiter auszuüben, auch wenn sie dabei die Grundrechte der Mitmenschen verletzen oder aber Normen und Regeln des täglichen Lebens nicht respektieren.

Diese Kinder zeigen die Tendenz, auch gefährliche Verhaltensweisen dafür einzusetzen, um kurzfristig eine Befriedigung zu erlangen, ohne die langfristigen Folgen mit einzuberechnen. Offenbar erfolgt eine Beschädigung der verschiedenen Hirnareale – in unterschiedlichem Ausmaß – welche abgesehen von emotionaler Regulierung auch die somatischen Äußerungen, die Fähigkeiten der Kommunikation, Selbstreflektion Empathie und Moral beinhalten.

Andauernde impulsive und explosive Verhaltensweisen, die den Anschein haben, dass das Kind gar nicht auf die Reaktion des Gegenübers achtet, zeigen, dass das Kind oder der Jugendliche in irgendeiner Form nicht mit seiner Umgebung verbunden ist. In diesen Fällen fehlt die anhaltende Rückmeldung und Übereinstimmung mit der Umgebung auf Beziehungsebene, was wiederum die Entwicklung der sozialen Fähigkeiten einschränkt.


Ob ein Jugendlicher später selbst selbstverletzendes oder aggressives Verhalten entwickelt, hängt sehr oft von dem familiären Umfeld ab, in dem ein Kind aufwächst.

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Auslöser für solche Verhaltensweisen können in traumatischen Erfahrungen in der Kindheit liegen, Misshandlung oder starke Vernachlässigung etwa oder aber eine konfliktreiche Beziehung der Eltern (Gewalt, häufiger Streit…). Auch psychische Probleme der Eltern können Auslöser sein oder aber eine Eltern – Kind Beziehung, die sehr konfliktreich und nicht unterstützend ist.

Dies äußert sich darin, wenn Eltern nicht offen für Gespräche sind, nicht klar und verständlich in Handeln und Kommunikation, wenn sie über kritisch oder ablehnend sind. Auch finanzielle oder kulturelle Benachteiligung können ein Auslöser sein.


Die Funktion von Emotionen

Bereits im frühesten Kleinkindalter stellt das Kind Beziehung her. Dann beginnt es nach und nach sich selbst zu differenzieren, sich selbst wahrzunehmen und es entwickelt seine Methode um sich auszudrücken. Damit entwickelt sich auch seine ihm eigene Art, Beziehung im Laufe der Zeit zu gestalten. Ab dem Moment, in dem das Kind in seiner Einzigartigkeit anerkannt und respektiert wird, lernt es, auch seinerseits zu lieben.

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Ein Neugeborenes ist aus evolutiver Sicht sehr verletzlich und all den Gefahren seiner Umgebung ausgesetzt. Um die Chance aufs Überleben zu erhöhen, stehen dem Kind Signale zur Verfügung: die Emotionen. Emotionen haben zum einen die Funktion, den inneren Zustand des Kindes auszugleichen und somit auf die Änderung äußerer Umstände zu reagieren. Zum anderen dienen Emotionen dazu, Informationen zwischen Menschen zu überbringen. Wenn ein Kind lacht oder weint, ruft es in seiner Bezugsperson eine Reaktion hervor, emotionale Reaktionen, die gut sichtbar und spürbar sind. Diese Reaktionen bringen den Erwachsenen dazu, sich anzunähern, entweder um das weinende Kind zu beruhigen, oder um das lachende Kind dazu zu ermutigen, auch weiterhin zu lachen.

Dabei ist die übliche Interaktion zwischen Eltern und Kind eine beidseitige Interaktion. Das Kind ändert sein Handeln und Kommunizieren, je nach emotionaler Reaktion und Handeln der Bezugsperson. Dabei kann beobachtet werden, dass auf jede emotionale Aktion sofort eine Reaktion im Handeln, so etwa in einer Bewegung des Körpers, des Gesichtes, in einer Geste o.ä.

Viele Studien der letzten Jahrzehnte haben zentral die Rolle der Emotionen erforscht.


Was geschieht, wenn das Kind in seiner Familie Gewalt erfährt?

Wenn das Kind eine Bezugsperson hat, von der es nicht spürbar geliebt wird, oder von der es keine Sicherheit bekommen kann, dann wird das Grundbedürfnis nach Zuneigung und nach Vertrauen – Eigenschaften, welche üblicherweise Bindungen dieser Art prägen – nicht gestillt werden. So kommt es, dass Kinder, die in einem negativen Ambiente aufwachsen, sich auch an eine gewalttätige Bezugsperson binden. Die größte Furcht eines Kindes nämlich ist der Verlust einer wichtigen Bezugsperson.

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Kinder, die nicht in einem sicheren Umfeld aufwachsen, weisen generell ein erhöhtes Stresslevel auf. In Fällen, in denen das Kind auch Gewalt erfahren muss, bilden die vielen unterschiedlichen emotionalen und körperlichen Reaktionen die Basis für ein extrem erhöhtes Stresspensum, welches wiederum prägend für die Art und Funktion der zukünftigen Beziehung sein wird. Kinder, die Gewalt erfahren, könne extrem ängstlich oder misstrauisch sein.

Wenn man davon ausgeht, dass die emotionale Beziehung zu den Eltern im Kind nicht nur die Entwicklung des Gehirnes und des Nervensystems anregt, sondern darüber hinaus auch die Basis zur Entwicklung seiner Selbstwahrnehmung bildet – was geschieht dann, wenn die Bezugsperson dem Handeln des Kindes nicht Antwort gibt, sie nicht mit Empathie in Beziehung tritt?

In diesem Sinne müssen wir uns die Frage stellen, ob diese Erfahrung des emotionalen Rückzuges und der Absenz von Zuneigung nicht bereits eine traumatische Erfahrung ist.

In den Studien von Tronick (2007) wird das Verhalten des Kleinkindes in Bezug auf den Gesichtsausdruck der Mutter beobachtet. Während dieses Versuches wird die Mutter gebeten, auf ein Signal von außen hin die Kommunikation zum Kind zu unterbrechen und jeden Ausdruck aus ihrem Gesicht weichen zu lassen. Sofort löst dies eine Reaktion im Kind aus, das die Veränderung in der Mutter wahrnimmt und umgehend versucht, den Blickkontakt wieder her zu stellen.

Gelingt dies nicht, streckt es seine Arme zur Mutter hin, dann beginnt es zu weinen oder auch zu schreien, immer weiter versuchend, eine Rückmeldung zu erzielen. Erfolgt diese auch dann noch nicht, scheint das Kind sich irgendwann zu beruhigen. Es scheint jedoch bedrückt, krümmt seinen Körper und lässt sein Köpfchen nach hinten fallen, entzieht sich nun jedem Kontakt. All dies geschieht in kürzester Zeit, meist binnen weniger als zwei Minuten.

Diese Studie ist äußerst interessant und ermöglicht es uns, über die maßgebliche Rolle der Bezugsperson in der emotionalen und sozialen Entwicklung des Kindes nachzudenken. Wenn die Umgebung des Kindes kalt und unnahbar ist, die Bezugsperson über einen längeren Zeitraum nicht in der Lage ist, auf die emotionalen Bedürfnisse des Kindes angemessen zu reagieren, dann wird das Kind ernsthafte Schwierigkeiten darin haben, seine emotionalen Bedürfnisse überhaupt zu erkennen und später dann zu kontrollieren. Es wird nicht erlernen, wie es positiv auf seine Umgebung einwirken kann und es wird auch nicht in der Lage sein, sich selbst in schwierigen Momenten zu trösten.


Literatur

Edward Tronick, 2007, The Neurobehavioral and Social-Emotional Development of Infants and Children, Norton, NY

Video: www.youtube.com/watch?v=apzXGEbZht0


Bereits zu Beginn einer Gewalterfahrung werden enorme Schäden angerichtet, doch je länger diese Erfahrung anhält, umso höher steigt der Stresspegel. Umso vielfacher werden die negativen Folgen in der Entwicklung der Motorik und der kognitiven Fähigkeit sein. In diesen Entwicklungsphasen entstehen irreparable Schäden.

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Eine umsorgende, warmherzige, stabile, tiefe Beziehung, die auch im Laufe der Zeit anhält, kann dem Kind in Folge Antwort bieten und dies könnte hilfreich für das Kind sein, um dennoch Methoden zu entwickeln, um die vorhergegangenen negativen Erfahrungen einzuordnen und aufzuarbeiten.

* Die Autorin ist Psychologin und Psychotherapeutin.


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