Miterlebte Gewalt


Dietlinde Brauer *


Was bedeutet miterlebte Gewalt?

Miterlebte Gewalt ist jene Form der psychischen Gewalt, bei der jemand Zeuge/Zeugin von Gewalthandlungen gegenüber einer nahestehenden Person wird. Im Fall der häuslichen Gewalt bezeichnet man als miterlebte Gewalt, wenn Kinder zu Zeugen von Gewalthandlungen an Familienmitgliedern werden.

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In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Gewaltakte des Vaters gegen die Mutter, manchmal auch Geschwister. Die Zeugenschaft kann in Form des Sehens, Hörens oder Fühlens bestehen (www.diagnosegewalt.eu). Die Kinder sehen, wie die Mutter geschlagen wird. Sie hören, wie der Vater schreit, die Mutter verstummt. Sie spüren den Zorn des Vaters, die eigene Angst, die der Mutter und der Geschwister, die bedrohliche Atmosphäre von Gewalttaten. Sie denken, der Vater töte die Mutter, sie müssten die Mutter und die Geschwister schützen, sie seien allein und ohnmächtig.

Auch wenn die Kinder nicht direkt anwesend sind, nehmen sie das, was geschieht, dennoch wahr, da sie evolutionsbiologisch darauf eingerichtet sind, auch kleinste Veränderungen bei ihren Bezugspersonen zu bemerken wie Anspannung, Einschüchterung, Wut, Angst, Merkmale physischer Verletzungen, Veränderungen im Verhalten. Gewalt gegen die Mutter ist immer auch Gewalt gegen das Kind.


Welche Bedürfnisse haben Kinder, die Opfer von miterlebter Gewalt wurden?

Als erstes müssen Schutz und Sicherheit auch für die Mutter gewährleistet werden, emotional wie räumlich. Kinder brauchen Zeit, mehrere Monate, um Distanz zu der erlebten Gewalt zu gewinnen und um sich in der veränderten Situation zu orientieren.

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Sie brauchen eine Bestätigung ihrer Wahrnehmung der beobachteten Gewalt und die klare Aussage der Erwachsenen, dass der Vater Unrecht getan hat und keine Gewalt ausüben darf. Sie brauchen Verantwortungsübernahme durch Erwachsene und somit Abnahme der subjektiv erlebten Verantwortung für das Geschehene.

Sie brauchen Verlässlichkeit und Kontinuität. Der Geheimhaltungsdruck muss beendet werden, die Gewalt altersgerecht angesprochen werden. Kinder brauchen Schutz vor Funktionalisierung. Sie dürfen vom Täter-Vater nicht dazu benutzt werden um Kontakt zur Mutter herzustellen oder ihr Botschaften zu überbringen.


Warum sprechen Kinder nicht über die erlebte Gewalt?

Kinder sprechen meistens nicht über die Gewaltsituation, weil sie kein Vertrauen haben und nicht wirklich glauben, dass es etwas hilft; weil sie Angst haben, dass dann die Gewalt erst recht eskaliert, weil sie sich schämen, weil sie in einem Loyalitätskonflikt stecken oder weil sie durch das Erzählen die ganze schmerzhafte Situation wieder erleben.


Wenn Frauen durch ihren Partner Gewalt erleiden, dann sind die Kinder immer auch mit betroffen.

Sei es, dass sie hilflose Zeugen der Gewaltsituation werden, sei es, dass die Mutter, physisch und psychisch geschwächt, ihnen nicht mehr die Zuwendung und Fürsorge geben kann, die sie bräuchten.

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Kinder haben dann akut Angst um ihre Mutter und ihre Geschwister, sie haben Angst um ihre eigene Existenz, sie leben zwischen den jeweiligen Gewaltepisoden in einer bedrückenden, freudlosen Atmosphäre der ständigen Bedrohung und ihr Bild vom liebevollen, Sicherheit gebenden Vater wird zerstört. Aber auch die Mutter-Kind-Beziehung wird durch die Gewalt an die Mutter erschüttert, die Rolle der Mutter als Quelle von Schutz und Geborgenheit gerät ins Wanken.

Ein Kind kann eine emotional sichere Bindung aufbauen, wenn die Bezugsperson verlässlich und angemessen auf seine Bedürfnisse reagiert. Die Bedrohung oder Verletzung einer engen Bezugsperson erzeugt beim Kind erhebliche Stresssymptome. Kinder schildern Gefühle von Angst, Mitleid, Erstarrung, Hilflosigkeit, Verunsicherung oder Überforderung.


Kinder wollen oft in das Geschehen eingreifen, im Versuch die Mutter oder Geschwister zu schützen und erleben dann selber unmittelbar Gewalt.

Sie fühlen sich schuldig und machen sich Vorwürfe, der Mutter nicht zu helfen und suchen die Verantwortung für den Gewaltausbruch häufig bei sich selber, bei einem eigenen Fehlverhalten.

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Oft erstarren sie auch in Angst und Hilflosigkeit, sind wie gelähmt in einem unerträglichen Gefühl der Ohnmacht. Sie fühlen sich schuldig und machen sich Vorwürfe, der Mutter nicht zu helfen und suchen die Verantwortung für den Gewaltausbruch häufig bei sich selber, bei einem eigenen Fehlverhalten. Kinder können aber auch in Loyalitätskonflikte geraten, wenn sie der Mutter gegen den Vater, dem sie gefühlsmäßig verbunden sind, beistehen. Es kann auch sein, dass sie wünschen, die Mutter möge stillhalten, um eine weitere Eskalation der Gewalt zu verhindern oder sie ergreifen Partei für den Gewalt ausübenden Vater und sind zornig über die Schwäche der Mutter.

Oft kommt es in der Folge auch zu Rollenumkehr: Die Kinder übernehmen die Rollen der Erwachsenen und werden zu Eltern ihrer Eltern. Sie kümmern sich um die hilflose Mutter, die ihrerseits in ihrer Überforderung nicht für das Kind sorgen kann. Somit fehlt den Kindern das Gefühl von Schutz meist fundamental.


Kinder „gewöhnen“ sich grundsätzlich nicht an Gewalt.

Wenn sie fortgesetzt Episoden direkter oder miterlebter Gewalt ausgesetzt sind, führt dies bei ihnen zu immer schwerer Schädigung.

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Die Beeinträchtigungen hängen von der Häufigkeit und Intensität, von der Nähe zum Geschehen, von der Unberechenbarkeit der Ereignisse, von der Beziehungsqualität zum Täter und Opfer sowie von der erlebten Hilflosigkeit ab. Je nach Alter zeigen Kinder unspezifische Symptome. Sie können sehr unterschiedlich auf die Traumatisierung reagieren.


Mögliche Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes:

→ Die kognitive Entwicklung wird beeinträchtigt, Konzentrationsfähigkeit und Intelligenz werden gemindert, schulische Leistungen fallen ab.

→ Die soziale Entwicklung wird beeinträchtigt, der Kontakt zu Gleichaltrigen verändert sich, das Kind kann sich scheu und ängstlich zeigen und wenig unternehmungslustig.

→ Die emotionale Entwicklung wird beeinträchtigt, es kann zu unkontrollierten Wut- oder Verzweiflungsausbrüchen kommen oder das Kind wirkt wie erstarrt.

→ Die normale Autonomieentwicklung scheint oft gestört durch eine sehr intensive aber krankmachende Bindung an die Eltern, die sich in Form von Hörigkeit, Überanpassung, Anklammern und Panikausbrüchen auch bei belanglosen Auseinandersetzungen zeigt (Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt 2011).

→ Die Kinder können regredieren, haben ein nicht altersentsprechendes Verhalten, wie z.B. nächtliches Einnässen. In der Folge kann es zu Posttraumatischem Belastungssyndrom (PTBS) mit Flashbacks und Vermeidungsverhalten kommen.

→ Weitere Verhaltensauffälligkeiten können Hinweise auf miterlebte häusliche Gewalt sein: Essstörungen und Appetitlosigkeit, Alpträume, Schlafstörungen, selbstverletzendes Verhalten, Zerstörungswut, Stottern, Stimmungsschwankungen bis hin zu Depressionen, niedriges Selbstwertgefühl, Anhänglichkeit, Isolierungstendenz, Flucht in Tagträume, verfrühte Heirat und Schwangerschaft.


Zeugen der Gewalt gegen die Mutter zu werden bedeutet nicht nur, einzelne Gewalthandlungen mitzuerleben.

Es bedeutet auch, das Geschlechterverhältnis als Herrschaftsverhältnis zwischen den Eltern zu erfahren, das bis zu einem hohen Grad der gesellschaftlichen Norm entspricht.

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Die Mutter wird als Frau erniedrigt und entwürdigt. Durch dieses Lernen am Modell lernen von häuslicher Gewalt betroffene Kinder destruktive und negative Verhaltens- und Geschlechterrollenmuster. Sie lernen, dass Gewalt zur Beziehung dazu gehört. Sie lernen, dass Gewalt zur Konfliktbewältigung eingesetzt wird und kennen kaum andere Strategien.

Sie lernen, Frauen mit Unterwerfung und Männer mit Dominanz zu assoziieren. Schlussendlich steigt auch das Risiko, dass Kinder, die von häuslicher Gewaltbeziehung betroffen sind, als Erwachsene ebenfalls Partnerschaftsgewalt erleiden bzw. ausüben um das dreifache (Koordinierungsstelle gegen häusliche Gewalt 2011).


* Die Verfasserin ist Mitarbeiterin im Kinderbereich des Frauenhauses Meran. Sie greift zu einem großen Teil auf einen Text zurück, der vom Netzwerk Kinderbereich der Südtiroler Frauenhäuser und der Geschützten Wohnungen in Bozen, Brixen, Bruneck und Meran erstellt wurde.


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