Psychosoziale Folgen aus psychiatrischer Sicht


Dr. Donatella Arcangeli *


Was geschieht in der Psyche eines Kindes das Gewalt erfährt?

Ein Gedanke vorab: Wie fühlt sich ein erwachsener Mensch, wenn er schlecht behandelt – oder gar misshandelt wird? Er fühlt sich schlecht, unbehaglich, fühlt negative Emotionen verschiedenster Art. Er fühlt sich traurig, wütend, blockiert, verängstigt oder manchmal auch wie innerlich erstarrt.

Ein Kind, das schlecht behandelt, misshandelt oder auch vernachlässigt wird, fühlt sich ebenso. Aber im Unterschied zum Erwachsenen verfügt das Kind noch nicht über die Fähigkeit und die notwendigen Mittel eines Erwachsenen um zu verstehen, wie ihm geschieht. Und wenn negative Erfahrungen dieser Art über längere Zeit anhalten, wird das Kind sich daran gewöhnen – ja – es wird glauben, dass dieser Zustand des “sich schlecht fühlen” normal ist.

Eine Psyche, die über längeren Zeitraum hinweg negativen, verletzenden Umständen ausgesetzt ist, die Psyche eines Menschen, der sich über längere Zeit hinweg unwohl fühlt, negativen Emotionen ausgesetzt ist, wird von Tag zu Tag verletzlicher und diese Psyche wird in Folge sehr viel anfälliger für ernsthafte Krankheiten und Störungsbilder sein.

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Ein Kind, das häusliche Gewalt erfährt, ist ein verängstigtes Kind. Wütend, traurig, enttäuscht, erschreckt, aber vor allem ist es nicht in der Lage, seine Gefühle zu zeigen und ihnen Ausdruck zu verleihen, weil die Angst vor Konsequenzen zu groß ist. Somit wird dieses Kind zu einem blockierten, erstarrtem Kind auf der emotionalen Ebene.

Ein emotional erstarrtes Kind ist in seinem Inneren sehr oft ein wütendes und trauriges Kind, nach außen hin aber ein gehemmtes, manchmal auch überaus angepasstes, ein braves, unauffälliges Kind.
Dadurch kann von außen der Eindruck entsteht, dass es diesem Kind gut geht. In Folge wird niemand bemerken, dass das Kind Hilfe benötigt und das Kind selbst wird nicht in der Lage sein, um Hilfe zu bitten. Somit wächst das Kind unter einer enormen Last auf, wodurch seine Unbeschwertheit, sein Selbstbewusstsein und seine Ausgeglichenheit auf eine harte Probe gestellt werden. Wenn dieses Kind dann in das Jugendalter kommt, wird es beginnen, nach dem „warum“ zu fragen. Warum können Erwachsene so boshaft und grausam sein?

Warum liebt ein Erwachsener nicht das Kind, das er selbst in die Welt gesetzt hat, wie kann es sein, dass das eigene Kind nicht von seinen Eltern geschützt wird? Und der Jugendliche wird sich auch die Frage stellen: Warum geschieht dies ausgerechnet mir?

Nun, was geschieht also in der Psyche eines Kindes, das Gewalt erfährt?
Jeder Mensch ist individuell. Dadurch ist auch der Grad der Belastbarkeit und die Fähigkeit, sich nach schlimmen Erfahrungen wider zu fangen und zu erholen von Mensch zu Mensch unterschiedlich.
Dennoch ist leicht nachvollziehbar, dass ein Kind, das von klein auf sehr oft schlimme Erfahrungen gemacht und damit verbunden oft negative Gefühle verspürt hat, Schwierigkeiten darin haben wird, diese als solche zu erkennen und mit Gefühlen in angemessener Form umzugehen. Dies wiederum wirkt sich nachhaltig auf sein Selbstbewusstsein und auf seine Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen und zu leben aus. Vor allem seine Gefühlswelt wird enorm darunter leiden, denn jemandem wirklich zu vertrauen wird in Folge äußerst schwierig sein.


Die Psyche dieses Kindes wird nun also sehr viel anfälliger sein für Störungen verschiedenster Art – emotionale Störungen, Angststörungen, psychosomatische Störungen oder auch Essstörungen, Störung des Sozialverhaltens oder auch Suchtverhalten. Solche Störungen treten sehr häufig erstmals im Jugendalter auf und können – sofern sie nicht erkannt und in ausreichender Form therapiert werden – die Grundlage zu weiteren, ernsthaften Störungen im Erwachsenenalter bilden, sodass dann auch das Arbeitsverhältnis und persönliche Beziehungen darunter leiden oder gar zerbrechen können.

logo-de-100Mit Sicherheit hat ein Kind, das in seiner Familie Gewalt erfährt – ein Kind, das das Empfinden entwickelt hat, mit all seinen Bedürfnissen nicht wahr genommen zu werden, ja, nicht sichtbar zu sein– kaum eine Chance, ein glücklicher Erwachsener zu werden, wenn es nicht Hilfe und Unterstützung erhält, um diesen negativen Emotionen Ausdruck zu verleihen.

* Die Autorin ist Kinder- und Jugendpsychiaterin.


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